FASZINIERENDES GESAMTKUNSTWERK

 

Vocale Neuburg und Jazzorchester gelang mit „Carpe Noctem“ ein Glücksgriff.

 

URAUFFÜHRUNG. Die vollbesetzte Pfarrkirche war Schauplatz einer Klang- und Licht-Inszenierung mit umwerfenden Eindrücken, wie man sie in dieser Dichte, Spannung und Qualität noch nicht erlebt hat. Klar, dass die Uraufführung des Projekts „Carpe Noctem“ von Johannes Berauer mit dem Kammerchor Vocale Neuburg und dem Jazzorchester Vorarlberg damit zum gefeierten Ereignis wurde.

 

Philosophische Vorlage

Begonnen hat alles 2008 mit einem Auftrag des in Wien tätigen Trompeters Martin Eberle für sein Jazzorchester an den oberösterreichischen Komponisten Johannes Berauer, der damals auch die berühmte „Linzer Klangwolke“ konzipierte. Berauer ging von einer philosophischen Vorlage aus und wählte die romantische Metapher „Vom Dunkel zum Licht“, gab aber der Nacht dabei weit mehr Gewicht. Sein Werk heißt „Carpe Noctem“ („Nutze die Nacht“), in Anlehnung an den berühmten Horaz-Spruch „Carpe diem“ („Nutze den Tag“), und versteht sich als eine Seelenreise in die eigene innere Befindlichkeit, artikuliert über vertontes Gedichtmaterial u.a. von Richard Dehmel, Ilse Aichinger oder Rainer Maria Rilke.

 

Der Gefahr einer intellektuellen Überfrachtung entgeht Berauer in der praktischen Umsetzung durch eine gekonnte, attraktive und zeitgeistige Verpackung seiner musikalischen Einfälle in kompakte Chorsätze und fetzige Bläserarrangements. Man spürt sofort seine professionelle Kompetenz sowohl in der Klassik als auch im Jazz, sein Aktionsradius reicht von alter Musik bis zur Avantgarde. Was daraus bei der einstündigen Aufführung unter der völlig entspannten Leitung des Komponisten entsteht, ist nur schwer in Worte zu fassen: eine faszinierend vielschichtige, dramaturgisch klug gebaute Collage aus Klang, Raum, Bewegung und Licht, für die der gewichtige Begriff „Gesamtkunstwerk“ nicht zu hoch gegriffen scheint.

Da erfolgt der Einzug der Sänger und Musik mit Kerzen in den Händen in den abgedunkelten, vernebelten Kirchenraum zu ostinaten mittelalterlichen Vokalklängen, von einem Sopransaxophon á la „Officium“ jazzig improvisierend kontrastiert.

 

Das gehört wiederholt

Da wandern die wunderbaren Solisten der Band (Herbert Walser-Breuß und Martin Eberle, Trompete/Horn/Flügelhorn, sowie Martin Franz und Andreas Broger, Sopran- und Tenorsaxophon) mit ihren Instrumenten wie selbstverständlich durch den Raum und Zeit, da ergeben sich in den mit enormen Feeling oft vielstimmig gesungenen oder rezitierten Texten zwischen Chor und Band spannenden Überlagerungen und Klangmischungen, da bilden die Sänger in der perfekten Einstudierung durch ihren Chorguru Oskar Egle mit tibetanischen Obertonakkorden im Kirchenrund das Fundament für einen von den Sopranen glockenhell intonierten Cantus firmus (am Keybord: Benny Omerzell). Und die im Jazzorchester Vorarlberg vereinte Creme der heimischen Szene wächst an diesen Aufgaben über sich hinaus.

Die Kirche bleibt während der gesamten Aufführung in mystischem Halbdunkel, das die Effekte der Lichtdesigner (Thomas Bischofberger, Pepe Madlener) umso eindrücklicher zur Wirkung bringt, bis hin zur gleißend, ins Publikum gerichteten „Sonne“, die zum Finale das Ende der Nacht symbolisiert. Ein Projekt, das bei nächster Gelegenheit im Lande wiederholt gehört!

 

VN, 12.1.2010, Fritz Jurmann